Gute Frage, warum sollte man einen nicht unerheblichen Betrag in den Besuch eines Musicals investieren? Antworten hierfür gibt es unzählige, manche mehr und manche weniger nachvollziehbar, aber in Summe tragen alle im Kern ihrer Aussage eine ähnliche Botschaft. Der Zuseher will berührt werden. Das Gebotene soll einen, auf welcher Ebene auch immer, fesseln, berühren, begeistern oder einfach aus dem Alltagsleben entführen und mitnehmen auf eine abenteuerliche Reise. Wie das geht? Indem man uns (dem Publikum) eine Geschichte erzählt, mit eben jenen Hilfsmitteln, die das Musical auszeichnen, mit Gesang, Schauspiel und Tanz sollen Bilder geschaffen werden, die die zu erzählende Geschichte und deren Charaktere zum Leben erwecken. Das Dargebotene soll mich, wie auch immer, erreichen. Natürlich gibt es Hilfsmittel wie Kulissen, Kostüme oder modernste Bühnentechnik, welche ein Theater sogar in einen Boxring verwandeln kann, aber das alles sind unterstützende Mittel, um das Wesentliche, die Geschichte an sich, noch plastischer und realistischer darstellen zu können. Bei all dem Gedöns passiert es aber nicht selten, dass die Handlung, sofern es überhaupt eine gibt, ins Hintertreffen gerät. Da sind Lichteffekte vom Feinsten und bis ins letzte Detail perfekt ausgetüftelte technische Leckerbissen, die einem zwar ein Staunen entlocken, aber der Geschichte letztendlich nicht oder nur wenig dienlich sind. Peter Pan etwa muss nicht unbedingt fliegen, es genügt auch, wenn es nur angedeutet wird und der ewige Junge allein durch die Imagination des Publikums abzuheben vermag. Dafür benötigt es aber nebst ordentlichen Darstellern auch eine Regie, die weiß, wie man eine Szene zum Leben erweckt und sie auch am Leben erhält. Anstelle von ausgeklügelter Personenregie werden einem immer öfter nur Copy/Paste Inszenierungen vor die Nase gesetzt. So gehen Glanz und Faszination schnell verloren, das Einzige was einen dann noch beschäftigt, ist der schnellste Weg zur Toilette in der nicht und nicht näher kommen wollenden Pause. Ich habe in den letzten Jahren unzählig viele Theater von innen gesehen und mich ganz oft prächtig aufgehoben gefühlt, das ein oder andere Mal habe ich mich aber auch dabei erwischt, mir am Sessel hin und her rutschend das Ende des Abends herbeizuwünschen. Musical muss mich erreichen, mich mitnehmen auf eine Reise, mir eine Geschichte präsentieren, deren Ausgang ich um alles in der Welt erfahren möchte. Im Meer der handlungsarmen oder handlungsfreien Trash-Musicals gibt es aber Stücke, die es ab und an sogar wert sind, sich auf Reisen zu begeben. Eines von denen durfte ich gerade neulich zum gefühlt hundertsten Mal (es dürften wohl so an die 10 mal gewesen sein) auf ein Neues erleben und hatte wie schon beim ersten Besuch, welcher bereits über zehn Jahre zurückliegt, einen erfüllten Theaterabend. Die „Scheiß“ Heiße Ecke im Schmidts Tivoli auf der Hamburger Reeperbahn hat es einfach drauf. Natürlich ist das Stück sehr Kiez bezogen, lokale Kenntnisse sind durchaus von Vorteil, aber die hat man sich schnell angeeignet. Ohne große Special Effects servieren die Protagonisten Stoff der einen direkten Angriff auf die Lachmuskeln startet, aber auch für ruhige und nachdenkliche Momente sorgt.
Es ist an sich eine Liebeserklärung an St. Pauli, an einen Stadtteil, den die Macher nicht aus Büchern kennen, sondern hautnah erlebt haben. Manches Mal frage ich mich, welche der vielen Geschichten auf der Bühne den Erschaffern wahrhaftig widerfahren sind, denn so mancher Charakter lässt sich tatsächlich inmitten des bunten Treibens auf der Reeperbahn ausmachen. Vor vielen Jahren habe ich meine Liebe zu Hamburg entdeckt und mit ihr die Liebe zu einem Stück, in welches ich nur durch Zufall geraten bin. Wäre damals die nette und durchaus attraktive Dame (zumindest ist sie das in meiner Erinnerung) nicht am Ticket Schalter der Landungsbrücken gewesen, die gemeint hat, dass ich das unbedingt sehen muss (eigentlich wollte ich Karten für den hoffnungslos ausverkauften Löwen König ergattern), wäre ich neben all den großen Shows wohl nie auf die Idee gekommen, mich in ein Stück zu begeben, dass von Geschehnissen an einer Würstelbude handelt. Seither rate ich jedem den es nach Hamburg zieht, sich die Stadt anzusehen, auf dem Kiez mal eine Curry Wurst zu essen und vielleicht auch den ein oder anderen Schlummertrunk einzunehmen, um sich nach Absolvierung des Sightseeing Programmes in die Heiße Ecke zu setzen.
Der Erfolg des Stückes spricht für sich, immerhin rennt die Show nahezu ausverkauft über Jahre hinweg. Warum? Weil es echt ist, weil es viele kleine Geschichten in einem runden Handlungsbogen präsentiert, charmant und frech daherkommt, nicht versucht etwas zu sein, was es nicht ist. Ich dürfte beim letzen Besuch wohl mehrmals herzhaft gelacht haben, sodass meine Begleitung nachher wissen wollte, ob sich denn viel am Inhalt geändert hätte, weswegen ich mich, obwohl mit dem Ganzen schon sehr vertraut, immer noch so amüsieren kann. Aber in der Heißen Ecke gibt es einfach eine Geschichte, mit der man etwas anzufangen weiß und nicht etwa eine, die hanebüchen zusammengestückelt oder mit viel Müh und Not um eine Handvoll Nr. 1 Hits als Lückenfüller herumgelegt wurde. Eine Geschichte, die eine Welt erschafft, in die man eintauchen kann und es auch möchte. Das ist es, was Musical muss, mit all seinen Mitteln, egal ob und wie eingesetzt: Eine Geschichte erzählen, die so aufbereitet ist, dass sie einen berührt.